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Über Wort-Melodie-Beziehungen beim Gregorianischen Choral

Von Markus Bautsch

Es wird immer wieder diskutiert, inwieweit die Melodien des Gregorianischen Gesanges von den Wörtern und Texten bestimmt sind, mit denen sie gesungen werden. Hier soll kurz gezeigt werden, dass dies für die große Mehrheit der Gesänge nicht zutreffend ist, aber auf der anderen Seite soll auf ein paar Besonderheiten hingewiesen werden, bei denen der Zusammenhang zwischen Text und Melodieverlauf sehr auffällig ist.

Gleiche Motive

Gregorianisches Motiv c - d - d - a - b - a

Es ist schon allein wegen der vielen Melodiezitate in völlig verschiedenen Kontexten deutlich, dass dem nicht grundsätzlich so sein kann. So taucht das Motiv c - d - d - a - b - a bei recht vielen Intoitūs des I. Tones als Initium (Anfangswendung) auf, wie zum Beispiel bei diesen Stücken (GR = Graduale Romanum):

  • Rorate (4. Advent, GR 34)
  • Suscepimus (Darstellung des Herrn, 2. Februar, GR 543; vergleiche auch 14. Sonntag im Jahreskreis, GR 300)
  • Gaudeamus (Heilige Agatha von Catania, 5. Februar, GR 545; vergleiche auch GR 405, GR 591, GR 619 oder GR 869).
  • Inclina Domine (21. Sonntag im Jahreskreis, GR 326)

Auch die drei Offertoria

  • Confitebor tibi, Domine (5. Sonntag der Fastenzeit (Iudica), GR 123)
  • Iubilate Deo universa terra (5. Sonntag der Osterzeit, GR 227) und
  • Benedicam Dominum (11. Sonntag im Jahreskreis, GR 293)

verwenden dieses Initium.

Ferner gibt es dieses Motiv auch oft in leicht verkürzter Abwandlung d - a - b - a, wie beispielsweise bei den folgenden Intoitūs:

  • Factus est Dominus (8. Sonntag im Jahreskreis, GR 281)
  • Iustus es, Domine (23. Sonntag im Jahreskreis, GR 332)
  • Da pacem (24. Sonntag im Jahreskreis, GR 336)
  • Statuit ei Dominus (für Papst- und Bischofsmessen, GR 445)
  • Stabant juxta crucem (Gedächtnis der Schmerzen Mariens, 15. September, GR 600)

Gleiche Texte

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Texte, die völlig gleichlautend in verschiedenen Zusammenhängen und mit unterschiedlichen Melodien und Kirchentonarten verwendet werden. Ein bestimmter Text kann einmal bei einer Antiphon und ein anders Mal bei einem Responsorium auftreten. Als Beispiele seien genannt:

  • Cantate Domino (Psalm 98,1):
    • Introitus vom 5. Sonntag der Osterzeit (GR 225, VI. Ton)
    • Alleluia-Vers vom 14. Sonntag im Jahreskreis (GR 330, I. Ton)
  • Esto mihi (Psalm 71,3):
    • Introitus vom 6. Sonntag im Jahreskreis (GR 275, VI. Ton)
    • Graduale vom 14. Sonntag im Jahreskreis (GR 301, V. Ton)
  • Ascendit (Psalm 47,6):
    • Alleluia-Vers von Christi Himmelfahrt (GR 236, IV. Ton)
    • Offertorium von Christi Himmelfahrt (GR 237, I. Ton)

Zitate aus dem gregorianischen Repertoire

Es gibt aber auch einige Motive und Melodien, bei denen der individuelle Bezug zum dazugehörigen Text ziemlich deutlich ist. Im Folgenden werden einige entsprechende Stellen aus den Propriumsgesängen des Gregorianischen Chorals zitiert.

Rorate

Introitus vom Proprium vom 4. Adventssonntag (GR 34, I. Ton).

Text (Jesaja 45,8):

Rorate caeli desuper, et nubes pluant iustum:
aperiatur terra, et germinet Salvatorem.

Übersetzung:

Tauet Himmel von oben herab, und die Wolken mögen regnen das Gerechte !
Es möge geöffnet werden die Erde, und sie möge den Erlöser hervorbringen !

Wort-Melodie-Beziehung:

Die drei Melodieabschnitte um die Wörter „caeli“ („Himmel“), „nubes“ („Wolken“) und „terra“ („Erde“) sind zunehmend tiefer komponiert und stehen somit für die bevorstehende Ankunft Gottes, dessen Sohn aus der Mitte der Menschen hervorgeht.


Siehe auch: Über Kontrafakturen gregorianischen Repertoires - Rorate

Reges Tharsis

Offertorium vom Proprium von Epiphanie (GR 58, V. Ton).

Text (Psalm 72,10):

Reges Tharsis et insulae munera offerent.

Übersetzung:

Die Könige aus Tarsis und von den Inseln bringen Geschenke.

Wort-Melodie-Beziehung:

Offertorium Reges Tharsis

Der Ton auf der Silbe „-sis“ ist sehr lang ausgehalten. Einer Dreifachtonneume (Tristropha), deren letzte Stropha episemiert (also gedehnt zu singen) ist, folgt eine mit einer Mora versehene Einzeltonneume (Virga) und darauf erneut eine wie bereits beschriebene Dreifachtonneume. Dieser lange, reperkutierte Ton versinnbildlicht die lange Reise der Könige, die von sehr weit her kamen.


Qui confident

Tractus vom Proprium vom 4. Fastensonntag (Laetare, GR 109, VIII. Ton).

Text (Psalm 125,2):

Montes in circuitu eius: et Dominus in circuitu populi sui.

Übersetzung:

So wie die Berge es [Jerusalem] umgeben, umgibt der Herr sein Volk.

Wort-Melodie-Beziehung:

Montes

Das Wort „Montes“ („die Berge“) wird mit zwei aufstegenden Quarten begonnen. Insgesamt gibt es sechs Quartsprünge innerhalb dieses Wortes, die die steilen Hänge und die Höhe der Berge versinnbildlichen.


Ascendit

Offertorium vom Proprium von Christi Himmelfahrt (GR 237, I. Ton).

Text (Psalm 47,6):

Ascendit Deus in iubilatione.

Übersetzung:

Gott stieg unter Jubel empor.

Wort-Melodie-Beziehung:

Ascendit Deus

Die aufsteigende Melodie auf „Ascendit Deus“ („Gott stieg empor“) versinnbildlicht die Himmelfahrt Christi.


Factus est repente

Communio vom Proprium von Pfingstsonntag (GR 256, VII. Ton).

Text (Apostelgeschichte 2,2):

Factus est repente de caelo sonus.

Übersetzung:

Plötzlich ist vom Himmel ein Geräusch gemacht.

Wort-Melodie-Beziehung:

Factus est repente

Das Brausen vom Himmel wird durch eine durchaus harmonische, aber durch die Quintsprünge doch sehr elementare und etwas gewaltig wirkende Melodie wiedergegeben. Auf der Silbe „so-“ von „sonus“ („Geräusch / Klang“) ist die Melodie melismatisch und hat ihren Höhepunkt.


Stetit angelus

Et data sunt ei

Introitus vom Proprium vom Fest der Erzengel (29. September, GR 610, I. Ton).

Text (Offenbarung des Johannes 8,3):

Et data sunt ei incensa multa:
et ascendit fumus aromatum.

Übersetzung:

Und es wurde ihm [dem Engel] viel Weihrauch-Harz gegeben.
Und der duftende Rauch stieg empor.

Wort-Melodie-Beziehung:

Nach der Dehnung des „multa“ („viel“), um die große Menge des Weihrauch-Harzes zu verdeutlichen, wird beschrieben, wie sich der Weihrauch im ganze Raum ausbreitet. Das ausgedehnte Melisma auf der Silbe „-cen-“ von „ascendit“ („stieg empor“) hat einen Ambitus von einer ganzen Oktave, was für die großräumige Ausbreitung des Weihrauches steht.


August 2010

Literatur

  • Aurelian of Réôme: Musica disciplina (9. Jahrhundert)
  • Musica enchiriadis (9. Jahrhundert)
  • Emmanuela Kohlhaas: Musik und Sprache im Gregorianischen Gesang, Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 49, Franz Steiner Verlag (2001), ISBN 9783515078764

Siehe auch

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