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Über die pythagoreischen Wurzeln der gregorianischen Modi

Von Markus Bautsch

Dieser Beitrag beleuchtet den Hintergrund der Legende von Pythagoras in der Schmiede und weist nach, dass diese Legende eine sehr realistische Grundlage haben könnte. Abschließend wird gezeigt, wie sich die pythagoreischen Töne im Gregorianischen Choral beim ersten Stück des Kirchenjahres wiederfinden.

Die Erfindung der Musik

Pythagoras von Samos soll nach der Überlieferung vor über 2500 Jahren die Musik erfunden haben. Damit ist nicht gemeint, dass es zuvor keine Musik gegeben hätte, sondern dass er der Musik durch die Zuordnung von rationalen Zahlen zu verschiedenen Intervallen als erster eine theoretische Grundlage gegeben haben soll.

Überlieferung in der Antike

Leider sind keine Schriften von Pythagoras vorhanden (möglicherweise hat er auch gar keine hinterlassen), und die ältesten Quellen stammen aus einer Zeit, die viele Jahrhunderte nach dessen Tod entstanden sind. Nikomachos von Gerasa hat mindestens 600 Jahre nach Pythagoras' Tod dessen Entdeckungen festgehalten. Aber auch diese Aufzeichnungen sind nicht erhalten, so dass wir auf die spätantike, lateinische Schrift De institutione musica („Einführung in die Musik“) von Boethius zurückgreifen müssen, die erst etwa 1000 Jahre nach Pythagoras entstanden ist und sich unter anderem vermutlich auch auf Nikomachos bezieht. Im Kapitel X der De institutione musica wird jedenfalls beschrieben, „wie Pythagoras die Verhältnisse der Zusammenklänge untersucht hat.“

Nach der Legende Pythagoras in der Schmiede sei dieser „durch göttlichen Wink“ an einer Werkstätte vorbeigekommen und hätte den Zusammenklang der durch fünf verschiedene Hammerschläge verursachten Einzeltöne bemerkt. Weil er vermutete, dass die Einzeltöne durch die Art und Kraft der Hammerschläge zustande kämen, veranlasste er die Handwerker die Werkzeuge zu tauschen. Er bemerkte, dass die Einzeltöne nicht mit den Handwerkern, sondern mit den Werkzeugen verbunden waren und dass die im Wohlklang zusammentönenden Werkzeuge in bestimmten ganzzahligen Gewichtsverhältnissen zueinanderstanden.

Danach hätte er diese Verhältnisse beim Variieren der Zuggewichte von Saiten und schließlich auch beim Monochord untersucht, bei dem er auch verschiedene Längen und Dicken der Saiten erforscht hätte.

Überlieferung im Mittelalter

Noch einmal 500 Jahre später, also mittlerweile 1500 Jahre nach dem Wirken von Pythagoras, bezieht sich der mittelalterliche Musiktheoretiker und Benediktiner Guido von Arezzo in seinem ebenfalls lateinischsprachigen Micrologus wiederum auf Boethius. Guido erwähnt im Kapitel XX, „wie die Musik aus dem Klange der Hämmer erfunden worden sei.“

Diese Überlieferung der Legende von Pythagoras erwähnt, dass dieser an einer Schmiede vorbeigekommen sei, wo auf einem Amboss fünf Hämmer schmiedeten. Bei Boethius war jedoch weder von Schmieden, noch von einem Amboss die Rede.

Widersprüche

Bei der physikalischen Analyse der überlieferten Fakten ergeben sich drei Widersprüche:

  • Die Eigenfrequenz von Hammerköpfen ist praktisch unhörbar, da sie im Ultraschallbereich liegt
  • Die Eigenfrequenz von Hammerköpfen ist in der Regel nicht umgekehrt proportional zu deren Gewicht
  • Die Zuggewichte einer Saite sind weder proportional noch umgekehrt proportional zur Tonhöhe

Erklärungsversuch

Diese Widersprüche können ausgeräumt werden, wenn die folgenden Sachverhalte erwogen beziehungsweise berücksichtigt werden:

  • Pythagoras könnte den komplizierten und aufwendigen Bau des über 1000 Meter langen Tunnels von Eupalinos auf seiner Heimatinsel Samos mitverfolgt oder sogar begleitet haben
  • Zu Lebzeiten des Pythagoras wurde das monumentale Heraion von Samos aus Kalkstein und Marmor gebaut
  • Das lateinische Wort „faber“ muss nicht mit „Schmied“, sondern kann auch mit „Handwerker“ übersetzt werden
  • Es gab damals sicherlich mehr Werkstätten und Handwerker zur Steinbearbeitung als zur Metallbearbeitung
  • Schmieden, in denen mindestens fünf Handwerker gleichzeitig schmieden konnten, dürften nur selten zu finden gewesen sein
  • Bei Meißeln liegt die Eigenfrequenz im hörbaren Bereich
  • Bei Meißeln mit gleicher Querschnittfläche ist die Tonhöhe umgekehrt proportional zu deren Gewicht und zu deren Länge
  • Die Tonhöhe einer schwingenden Saite ist umgekehrt proportional zu deren Länge
  • Die Tonhöhe einer schwingenden Saite ist umgekehrt proportional zu deren Dicke

Mit einigen entsprechenden und plausiblen Annahmen ergibt sich ein Szenario, das sich zu Pythagoras' Zeiten zugetragen haben könnte, ohne dass es zu Widersprüchen mit den physikalischen Gesetzmäßigkeiten kommt:

Wenn die Geschehnisse der Überlieferung von Boethius, die weder Schmiede noch Ambosse erwähnt, in einer Werkstätte für Steinmetze stattgefunden haben und in dem Punkt der Benennung der Werkzeuge dahingehend ungenau war, dass nicht nur die Hämmer, sondern Ensembles aus Meißeln gleichen Querschnitts aber unterschiedlicher Länge und Hämmern gemeint waren, wären die Töne hörbar und den Meißeln zuzuschreiben gewesen. Unter dieser Voraussetzung wären die ganzzahligen Verhältnisse der Tonhöhen identisch mit denen der Längen oder Gewichte der Meißel und völlig unabhängig von den Handwerkern und den verwendeten Hämmern gewesen.

Beim Experimentieren mit einem Monochord und konstanter Saitenspannung und -beschaffenheit hätte Pythagoras bei einer bestimmten Saitendicke exakt die gleichen Verhältnisse zwischen Saitenlänge und Tonhöhe und bei einer bestimmten Saitenlänge exakt die gleichen Verhältnisse zwischen Saitendicke und Tonhöhe gefunden, wie zwischen Meißellänge respektive Meißelgewicht und Tonhöhe. Eine doppelt so lange Saite mit gleicher Dicke oder eine doppelt so dicke Saite mit gleicher Länge klingen also exakt eine Oktave tiefer, als die Saite mit der einfachen Dicke beziehungsweise Länge.

Die hierbei zu beobachtenden Verhältnisse mit den ganzen Zahlen 1, 2, 3 und 4 entsprechen den konsonanten Intervallen Oktave, Quinte, Quarte und Prim. In Bezug auf einen beliebigen Grundton ergeben die entsprechenden vier pythagoreischen Töne einen sogenannten Tetrachord.

Bei der weiteren Untersuchung dieser Verhältnisse ergab sich schließlich die diatonische Tonfolge aus den sieben Tönen A – B – C – D – E – F – G. Diese heptatonische Tonleiter bildet sowohl die die Grundlage für das antike Systema Téleion der Griechen, das sich in den Jahrhunderten nach Pythagoras herausbildete, als auch für die vier Kirchentonarten Protus, Deuterus, Tritus und Tetrardus, die sich in den Jahrhunderten nach Boethius herausbildeten.

Die antiken Untersuchungen mit den Zuggewichten von Saiten mögen durchgeführt worden sein, sind jedoch für diese Erkenntnisse weder hinreichend noch erforderlich. Wird die Spannkraft der Saite verdoppelt, ergibt sich eine um den Faktor Quadratwurzel von zwei (≈ 1,4142) erhöhte Frequenz, die einem gemeinhin als dissonant empfundenen Tritonus-Intervall entspricht. Nichtsdestoweniger war auch diese irrationale Zahl sowohl den Pythagoreern als auch schon lange zuvor den Babyloniern bekannt.

Unabhängig von der Frage, welche dieser Gesetzmäßigkeiten in der Antike tatsächlich untersucht und gefunden worden sind, sind bei den mittelalterlichen und neuzeitlichen Überlieferungen offensichtlich Ungenauigkeiten aufgetreten. Ferner sind auch unhistorische Ergänzungen vorgenommen worden, die für die Interpretation der Überlieferung des Boethius jedoch nicht weiter berücksichtigt werden müssen. Nichtsdestoweniger haben Ungenauigkeiten bei den Überlieferungen und die praxisfernen Hinzufügungen und Änderungen sicherlich dazu beigetragen, dass auch die ältesten Berichte über Pythagoras' Untersuchungen von vielen Autoren - nach den obigen Ausführungen aber vielleicht völlig zu Unrecht - in das Reich der Legenden verbannt wurden.

Der erste Gesang des Kirchenjahres

Die Antiphon „Ad te levavi“ - die vier pythagoreischen Töne C - F - G - c sind blau dargestellt

Die gregorianische Antiphon „Ad te levavi“ wird als Introitus des ersten Sonntags im Advent und somit als erster Gesang des Kirchenjahres gesungen. Die nach dem Graduale Novum restituierte Melodie im VIII. Ton (Tetrardus plagalis) beginnt auf dem Text „Ad te levavi animam meam“ (siehe Psalm 24,1 und Psalm 142,8 (Vulgata), „Zu dir habe ich meine Seele gehoben“, vergleiche Psalm 25,1 und Psalm 143,8 (Einheitsübersetzung)) mit zwanzig Tönen, von denen vierzehn dem pythagoreischen Tetrachord C – F – G – c entsprechen und die restlichen sechs als Verzierungen und Durchgangstöne betrachtet werden können. Der Melodieabschnitt endet auf dem Ton F, die Repercussa (der Halteton oder Tenor) ist das C und die Finalis (der Schlusston) des VIII. Modus ist das G.

Diese Koinzidenz ist recht auffällig, und es scheint, als wollte uns der Komponist mit diesem ersten Stück des gregorianischen Repertoires auf den (pythagoreischen) Ursprung der Musiktheorie und der Systeme der antiken und gregorianischen Modi hinweisen…


März 2012

Siehe auch

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